Benutzer:Modran/Kosma: Unterschied zwischen den Versionen
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Lisa schaute ihr noch eine Weile nach und beobachtete, wie dieses merkwürdige Persönchen beim Gehen wie ein Metronom hin- und herwankte. (Kam es Lisa nur so vor, oder hatte da eine Made aus der Kirsche auf dem Hut der alten Dame herausgeschaut?)<br> | Lisa schaute ihr noch eine Weile nach und beobachtete, wie dieses merkwürdige Persönchen beim Gehen wie ein Metronom hin- und herwankte. (Kam es Lisa nur so vor, oder hatte da eine Made aus der Kirsche auf dem Hut der alten Dame herausgeschaut?)<br> | ||
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+ | === Kapitel 3: Chronos === | ||
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+ | {{Textframe|Ich esse meine Kinder nicht, nein, meine Kinder eß ich nicht! |''der Zeitgeist einer sehr langweiligen Wahrscheinlichkeitsebene''}} | ||
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+ | Lassen wir einmal die vorherrschenden, leider recht abstrakten Ansichten der modernen Physik darüber, was Zeit eigentlich ist, beiseite.<br/> | ||
+ | Im alltäglichen Leben kann jedermann schnell feststellen, daß der Charakter der Zeit nicht nur darin besteht, relativ zu sein, sondern auch eigensinnig, verwirrend und regelrecht link.<br/> | ||
+ | Fünfzehn Minuten, zum Beispiel, sind nun wirklich keine lange Zeit. Aber zählen Sie einmal die 900 Sekunden einzeln ab!<br/> | ||
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+ | Können Sie sich an einen Tag erinnern, an den Sie sich nicht mehr erinnern können?<br/> | ||
+ | (Halten Sie diese Frage für sinnvoll?) Wenn ja: dieser Tag bestand aus 86.400 solcher Sekunden.<br/> | ||
+ | Wenn nein: dann auch.<br/> | ||
+ | Einunddreißigkommafünf Millionen pro Jahr.<br/> | ||
+ | Verstehen Sie, was ich meine?<br/> | ||
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+ | Die Zeit mag es nicht, gezählt und untersucht zu werden. Der Grund dafür liegt in der wahren Bedeutung dessen, was die Philosophen* das ‚Wesen der Zeit‘ nennen.<br/> | ||
+ | Sie ist nämlich eins!!!<br/> | ||
+ | Nein ehrlich. Die Zeit ist eine denkende, rational handelnde Entität, und sie kennt sogar das Wunder der Empfindung.<br/> | ||
+ | Sie können ihr Freund sein oder ihr Feind. Das liegt ganz bei Ihnen.<br/> | ||
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+ | Nun ja, unter Umständen auch an den Umständen.<br/> | ||
+ | Freilich, als sie noch jung war, hat sie sich einiges gefallen lassen (müssen). <br/>Jedermann konnte sie strecken, verdrehen, verknoten und aufschlitzen, gerade wie es ihm beliebte.<br/> | ||
+ | Sie hielt das alles für Spielerei, ja, fand es sogar amüsant.<br/> | ||
+ | Doch tief geschlagene Wunden brachten ihr Verstand bei. Sie ließen sie reifen, edler und würziger werden, wie einen kostbaren Wein.<br/> | ||
+ | Die Ära der Zeitenwandler, Chronotaumiker, Traumakomiker und Ewigjugendlichen war ein für alle Male vorbei.<br/> | ||
+ | Sprach Zarathustra* und starb. Also!<br/> | ||
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+ | „Junger Mann, hätten Sie die Güte, mich kurz Ihr Badezimmer benutzen zu lassen?“<br/> | ||
+ | „Nein, bitte, tun Sie sich keinen Zwang an. Ich bin sowieso schon zu spät zur Aufsichtsratssitzung dran. Sie haben da übrigens eine Made in der Kirsche.“<br/> | ||
+ | „Na sowas. Und dabei habe ich Simon heute morgen noch darauf hingewiesen, daß ihr davon immer schlecht wird.“<br/> | ||
+ | „Falls es dazu kommt: der Eimer steht im Besenschrank. Aber er wird höchstwahrscheinlich etwas zu groß sein. Sind sie so nett und schließen die Tür, wenn Sie gehen?“<br/> | ||
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+ | „Ich werde daran denken!“ zitterte das Stimmchen.<br/> | ||
+ | Aber Kalli war schon verschwunden.<br/> | ||
+ | Die kleine alte Dame mit dem Filzhut setzte sich.<br/> | ||
+ | Sie wartete auf den Bus.<br/> | ||
+ | „Ich mag den Burschen“ sagte Simon, die Made.<br/> | ||
+ | „Ich hoffe, es wird alles gutgehen“ erwiderte die kleine alte Dame. Als der Bus dann kam und sie einstieg, dachte sie an Türen, die sich schlossen.<br/> | ||
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+ | Kalli betrat die Apotheke. Er haßte diesen Geruch. Er war so ... medizinisch. Eine Mischung aus dem Geruch von Omas Kleiderschrank, Opas Dose mit Lakritzbonbons, Eukalyptustabletten und Baldrianpastillen, aus unscharfen grünen Kitteln und einem undefinierbaren, schrillen Geruch, wie das Geräusch eines Zahnarztbohrers.<br/> | ||
+ | Die Apathie schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen:<br/> | ||
+ | Die Apotheken dieser Welt hatten sich gegen ihn verschworen.<br/> | ||
+ | ‚Kommt das Wort Apotheke etwa von Apathie?‘ überlegte Kalli. ‚Oder umgekehrt?‘<br/> | ||
+ | Es gab neben ihm nur einen einzigen anderen Kunden.<br/> | ||
+ | Einen alten Mann.<br/> | ||
+ | Der gerade bedient wurde.<br/> | ||
+ | Scheinbar schon seit geraumer Zeit.<br/> | ||
+ | Und ein Ende war nicht abzusehen.<br/> | ||
+ | Kennen Sie das?<br/> | ||
+ | Das Duell zwischen dem Alten und der Apothekerin hatte gerade ein Stadium erreicht, in dem die Ärmste alles dafür gegeben hätte, die weiße Fahne schwenken zu können, wenn die Spielregeln solcherlei nur irgendwie vorgesehen hätten. Hatten sie aber nicht.<br/> | ||
+ | Es blieb ihr nur ein Ausweg:<br/> | ||
+ | „Ich kann natürlich gerne versuchen, ob ich auf die Schnelle den Hersteller telefonisch erreichen kann, ich bin gleich wieder da.“<br/> | ||
+ | Und weg war sie.<br/> | ||
+ | Damit hatte sie sich eine Pause von fünf bis zehn Minuten verschafft, wie Kalli verzweifelt zur Kenntnis nehmen mußte.<br/> | ||
+ | Jetzt fehlte es nur noch, daß der Alte ihn ansprach.<br/> | ||
+ | ‚Oh nein, er dreht sich um ...‘<br/> | ||
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+ | „Dauert das noch lange?“ – Glucksen.<br/> | ||
+ | „Bitte?“ – genervte, geistig abwesende Stimme.<br/> | ||
+ | (Nein, wir sind nicht mehr in der Apotheke!)<br/> | ||
+ | „Lange. Dauern. Du verstehst?“ – albernes Kichern.<br/> | ||
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+ | „Ich habe über diesen Witz noch nie lachen können. Könntest Du Dich vielleicht etwas nützlich machen?“<br/> | ||
+ | Gelbe Lichtlein blinkten, grüne Linien schlängelten sich über Monitore, blauer Dunst lag in der Luft ...<br/> | ||
+ | „Können? Vielleicht? Ah, den hab ich. Du hast ja doch Humor ...“<br/> | ||
+ | ... und rote Symbole drohten.<br/> | ||
+ | „Das war kein Witz! Wir haben ein ernsthaftes Problem!“<br/> | ||
+ | Ein erstauntes Gesicht schaute in ein besorgtes.<br/> | ||
+ | „Wie ist das denn möglich?“<br/> | ||
+ | „Es ist nicht möglich. Eben das ist ja das Problem!“<br/> | ||
+ | „Und wenn wir sie zurückrufen?“<br/> | ||
+ | „Das ist möglich. Aber nicht unproblematisch.“<br/> | ||
+ | „Faszinierend.“<br/> | ||
+ | „Wieso?“<br/> | ||
+ | „Es scheint da eine Art Unschärferelation zu existieren. Die Dinge können nicht unproblematisch und möglich zugleich sein. Wie groß wohl der Quotient sein mag?“<br/> | ||
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+ | „39,3 Grad. Ich sag‘s nur, wie’s ist. Und was machen diese hochgelehrten Schwachköpfe? Wollen mir den Alkohol verbieten. Mir! Den Alkohol! Mir! Und jetzt auch noch so‘was.“<br/> | ||
+ | Kalli schwieg wie betäubt.<br/> | ||
+ | (Ja, wir sind wieder in der Apotheke.)<br/> | ||
+ | „Haben Sie eigentlich schon mal fünf Tage auf dem Scheißhaus verbracht, haben Sie, hä? Und dann diese Beipackzettel. Nehmen gar kein Ende, diese Dinger. Nichts darfst Du machen, wenn Du irgendwas nimmst. Auch nichts nehmen. Man traut sich ja kaum noch, zu atmen“. Der Alte spie die Wort regelrecht aus.<br/> | ||
+ | Kalli versuchte, nicht zu atmen.<br/> | ||
+ | „Wenn man sie überhaupt lesen kann. Ein Fluch. Und wenn ich dann den Apotheker frage, was das heißt, und das da, dann schauen mich alle an wie einen verdammten alten senilen Greis, verstehen Sie?“<br/> | ||
+ | Kalli verstand.<br/> | ||
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+ | „Soll ich Ihnen sagen, warum diese Welt vor die Hunde geht? Niemand hat mehr Zeit!<br/> | ||
+ | Nicht für das Notwendigste! Sie haben die Zeit abgeschafft. Das ist eine Verschwörung, und niemand ist vor ihnen sicher.“<br/> | ||
+ | Kalli hatte das Gefühl, die Zeit würde überhaupt nicht mehr vergehen.<br/> | ||
+ | Doch der Schein trug. Die Apothekerin kam zurück.<br/> | ||
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+ | Während in einer anderen Dimension die Zeit stillstand. Wenn man das so nennen kann. Was man nicht kann.<br/> | ||
+ | Obwohl ich es eben getan habe, was wiederum dafür spricht, daß man es doch kann.<br/> | ||
+ | Wenn man so sagen darf.<br/> | ||
+ | Was man darf, aber nicht kann, wenn die Zeit stillsteht.<br/> | ||
+ | So ist das. Es passiert einfach nichts.<br/> | ||
+ | Langweilig, oder?<br/> | ||
+ | Dennoch, auch diese Nicht-Dimension mußte mal erwähnt werden, da sie existiert und eine Rolle spielt.<br/> | ||
+ | Von außen betrachtet.<br/> | ||
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+ | „Das mußt Du Dir ansehen!“<br/> | ||
+ | Die Stimme ist nicht wenig aufgeregt und vibriert wie die Unruhe in der Uhr ihres Besitzers.<br/> | ||
+ | Eine Marken-Unruhe.<br/> | ||
+ | „Jemand tut das selbe wie wir!“<br/> | ||
+ | „Meinst Du damit, was ich denke, das Du meinst?“ - die bekannte Stimme des Trägers einer anderen bekannten Uhr.<br/> | ||
+ | „Jemand manipuliert! Ich kann Frequenzen einspielen, doch sie sind kurz darauf wieder aufgelöst, wie von Geisterhand. Alle, absolut alle Interferenzen sind destruktiv. Das kann kein Zufall sein.“<br/> | ||
+ | Ein seltsamer Ausdruck zeigt sich auf einem Gesicht und verleiht ihm ein nie gekanntes Aussehen. Ist es Angst? Verblüffung? Nichts von alledem – es ist eher etwas wie Neugier. Sehr neu.<br/> | ||
+ | Und sehr gierig.<br/> | ||
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+ | „Aber es gibt niemanden außer uns, der das tun könnte! Allein der Gedanke ist verrückt.“<br/> | ||
+ | „Außerhalb des Systems gibt es niemanden. Doch innerhalb ...“<br/> | ||
+ | Die Sekundenzeiger zweier Präzisionsmeßgeräte bewegen sich um mehrere dutzend Grade weiter, während man ein Spinnenbein fallen hören könnte.<br/> | ||
+ | Noch bevor es aufschlägt.<br/> | ||
+ | „Nein! Der Gedanke ist noch abstruser. Von innen manipulieren ... das grenzt an ... Paranoia!“<br/> | ||
+ | „Ich bin nicht paranoid. Doch wir sollten das Phänomen sorgfältig untersuchen.“<br/> | ||
+ | „Tun wir das. Wäre ja noch schöner, wenn es so etwas wie eine Zukunft gäbe, und die selbst sie auch noch manipulieren könnten.“<br/> | ||
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+ | Man kennt das ja von Dornröschen:<br/> | ||
+ | Da kamen alle möglichen Tanten vorbei und verfluchten das arme, unschuldige Mädchen mit Schönheit, Weisheit, Jungfräulichkeit und 100 Jahren Schlaf.<br/> | ||
+ | Weit weniger bekannt ist, daß ähnliches jedem passiert, nur nicht immer mit dem selben Wortlaut.*<br/> | ||
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+ | Ebenso sind es nicht immer märchenhafte Feen, sondern je nach Kulturkreis auch schon mal die Hebamme, der Gemeindepfarrer, die Frau vom Gemüsestand oder der hemdsärmelige, nach Bier stinkende alte Nachbar, die in Dein Leben eintauchen und Dir Dein Schicksal prophezeien.<br/> | ||
+ | Oder Mutters Kaffeekränzchen.<br/> | ||
+ | Wie im Fall von Max.<br/> | ||
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+ | „Aus dem Jungen wird mal was!“ und „Nein, so ein liebes Kind aber auch!“ gehörte nicht zu dem, was er in seiner frühesten Kindheit zu hören bekam.<br/> | ||
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+ | Statt dessen kam man auf die eigene Jugend zu sprechen, in der es so etwas nicht gab. | ||
+ | Oder auf Besserungsanstalten (die es seinerzeit mehr denn je gab*).<br/> | ||
+ | Aber meistens, und das war noch viel schlimmer, sprach man überhaupt nicht mit oder über ihn. Es gab ja auch wichtigeres. Die Frühjahrsmode und die neue Wonderbra-Diät; oder Sportergebnisse, Motorenöl und Pseudopolitik, je nach Elternteil.<br/> | ||
+ | Es gibt nicht viele Menschen, die mitten in Klischees aufwachsen, doch es gab und gibt sie immer. Dadurch werden sie selbst zu Klischees.<br/> | ||
+ | Heute verkauft Max Scherzartikel.<br/> | ||
+ | Beziehungsweise hatte er das vor.<br/> | ||
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+ | Max war wie hypnotisiert.<br/> | ||
+ | Ein dumpfer Gedanke erfüllte seinen Kopf:<br/> | ||
+ | „Wo bist Du.“<br/> | ||
+ | Ein Gedanke, der ganz definitiv nicht sein eigener war. Er hatte eine völlig andere Stimme.<br/> | ||
+ | Nein, eigentlich konnte man es nicht Stimme nennen, es war jenseits gewohnter Sinneseindrücke.<br/> | ||
+ | Am ehesten ließ es sich mit einem Geschmack vergleichen.<br/> | ||
+ | Der Gedanke schmeckte nach Aluminium.<br/> | ||
+ | Und er aluminierte, ganz deutlich: „Wo bist Du.“<br/> | ||
+ | Ohne Fragezeichen.<br/> | ||
+ | „Gute Frage“ dachte Max, diesmal selbst.<br/> | ||
+ | Der Glaube an seine kognitiven Fähigkeiten wurde nicht unwesentlich durch die munter blinkende Kugel über seinen beiden eigenen Augen beeinträchtigt.<br/> | ||
+ | Allem Anschein nach lag er in einer Pfütze; ob sich diese jedoch auf dem Planeten Erde befand - oder überhaupt im bekannten Universum - dafür würde er seine Hand nicht mehr ins Feuer legen.<br/> | ||
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+ | Ebenso war es möglich, es handelte sich um einen psychedelischen Traum jener Art, wie man sie zwischen dem vierten und fünften Aufwachen am Morgen zu erleben pflegt.<br/> | ||
+ | „Brblblblblbr...“ sagte er, eher unfreiwillig.<br/> | ||
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+ | Wiederum erfüllte etwas aluminiumartiges Maxens Sinne:<br/> | ||
+ | „Philosophischer Parser nicht geladen. Keine Zeit dafür. Wohin bewegst du dich und wenn ja, mit welcher Geschwindigkeit?“<br/> | ||
+ | Max, der den Verdacht hegte, sich mit Lichtgeschwindigkeit in den Irrsinn zu bewegen, bekam prompt zur Alu-Antwort, die Frage solle geographisch aufgefaßt werden.<br/> | ||
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+ | „Was ist das hier? Versteckte Kamera?“ brach es aus Max heraus. „Ich liege in einer gottverdammten Pfütze und bewege mich keinen verfluchten Zoll!“<br/> | ||
+ | Schlagartig beruhigten sich die Blinklichter des Ungewöhnlichen Fliegenden Objekts, und nach ein paar Augenblicken superb choreographierter Spannung ertönte eine piepsige Stimme aus seinem Inneren:<br/> | ||
+ | „Oh, du beherrschst die artikulative Kommunikation? Warum sagst Du das nicht gleich?“<br/> | ||
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+ | Dann piepste die Kugel "keinerlei Bewegung" und vermerkte drei (Komma eins vier eins fünf neun) Wahrscheinlichkeitspunkte für Zenons Theorie.<br/> | ||
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Version vom 29. Januar 2006, 04:25 Uhr
Cosma
Ein Roman
Wehret den Anfängen!
Kapitel 1: Aleph
Am Anfang ... ist das Jenseits.
Man mag sich eine Wolkenlandschaft vorstellen, Leichtigkeit und Sein, die seidene Luft erfüllt von harfenen Harmonien, Glückseligkeit im Familienpack, Hedonismus im quadrierten Kreis.
Es ist ebenso möglich, an eine nicht enden wollende Leere zu denken [A1], ein unglaubliches Saufgelage an Odins herber Tafel, ein Chor von Cherubin und Seraphinen, eine Existenz als denkender Wasserstoff, Nirwana, Ommmmm...
Ganz egal welche Sichtweise bevorzugt wird, unter welchem Winkel man es auch betrachtet: man kommt der Wahrheit unter Garantie nicht näher als Ikarus der Sonne. [A2]
Dies ist jedenfalls das Jenseits.
Hier beginnt unsere Geschichte.
Mit Sicherheit endet sie auch hier.
Dies hier ist eine Seele!
Auwei, nun werden die Vorstellungen erst recht mannigfaltig auseinandergehen, zumal sowohl poetischere als auch treffendere Bezeichnungen für den Quell des Bewußtseins existieren - der Autor versucht jedoch ganz bewußt und beseelt, in diesem Theater mit bescheidenen Mitteln auszukommen, und auf gar keinen Fall theatralisch zu werden.
Ähmm ...
Betrachten wir sie einfach als den Keim einer Struktur, eines Musters, eines Gedankens (oder so ähnlich), der sehnsüchtig danach fiebert, seinen Schatten in das, was wir gemeinhin Welt oder objektive Realität nennen, zu projizieren.
Eine ganz normale Seele.
Bis auf den Umstand, daß speziell diese Seele ganz und gar nicht normal ist.
Oh nein, mitnichten!
Nun ist es soweit:
Einem Krokodilküken gleich, dessen Zeit zu schlüpfen gekommen ist, hat sie sich geduldig einen Riß in die unendlich stabile und doch so zarte Eierschale gepickt, die das Mögliche von dem Wirklichen trennt, das Unwahrscheinliche vom Gewöhnlichen.
Doch oft auch das Wahre vom Schönen.
Mehr dazu später.
Denn dies hier ist erst einmal die Erde.
Die Erde, auf der man mit beiden Beinen fest stehen sollte.
Die Mutter, deren Schoß uns einst gebar, und die uns wieder zu sich nehmen wird, wenn es daran ist.
Sagen die Einen.
Erde, erstes der vier Elemente: Beständigkeit, Härte, Schwere, Zentrum des Universums.
Sagen Andere.
Erde, Klasse M, dritter Planet in einem System aus zehn, fünf Milliarden Jahre alt, 8 Minuten von der Sonne entfernt.
Sagen Dritte.
„Ein öder Haufen Dreck“ sagte Max.
Kapitel 2: Ballistik
Es war ein Tag wie jeder andere, keiner weiteren Erwähnung wert, an dessen fortgeschrittenem Morgen Max dieselbe (nicht erwähnenswerte) Straße wie an den meisten Tagen (sogar an erwähnenswerten) hinunter schlenderte.
Die wenigen Nuancen von verwaschenem Grau - hier und dort unterbrochen durch die Farbtupfer parkender Fahrzeuge und überkritzelter Werbeplakate – hatten es längst verlernt, seine Aufmerksamkeit für sich in Anspruch zu nehmen.
Beide Hände in den Taschen einer viel zu tief sitzenden Jeans, die Augen dezent auf einen imaginären Punkt zehn Zentimeter vor seinen Zehenspitzen konzentriert [B1], die Gedanken an einem möglichst weit davon entfernten Ort, nahm Max - ebenso wie die Dinge - seinen gewohnten Gang.
Nicht, daß irgend etwas ungewöhnlich gewesen wäre.
Wie gesagt.
„Morgen, Kalli“ murmelte er, als er an der Bushaltestelle vorbeikam, ohne dabei die Blickrichtung auch nur ansatzweise zu variieren. Es gab schließlich keinen Grund anzunehmen, der freundliche Gruß würde nicht erwidert werden. Es war ein Tag wie jeder andere, oder nicht?
Oder nicht ???
„Morgen, Max“ grummelte die Bushaltestelle zurück.
Na bitte!
Ein paar Schritte weiter vorn wurde eine Haustür aufgerissen. Ein Mantel schoß heraus, der von einem brilletragenden Glatzkopf hastig übergeworfen wurde, während er (der Glatzkopf) die Stufen mehr hinunter stürzte als lief, sich gleichzeitig von oben bis unten die Taschen abklopfte - und ganz allgemein einen trostlosen Eindruck erweckte.
„Rechte Jackettasche“ murmelte Max.
Mit dem linken Bein noch halb in der Luft (Max fragte sich jedesmal, wie der haarvermissende Fielmann-Clubkunde dies vollbrachte) hielt der glatzköpfige Brilleträger plötzlich inne, wand seinen Oberkörper um hundertachtzig Grad negativen mathematischen Drehsinns und rief verzweifelt: „Wo sind jetzt wieder die Autoschlüssel, Schatz?“
Max tarierte das Timing seines Schlenderns präzise aus, um nicht mit dem bebrillten Autoschlüsselvermisser zu kollidieren.
Ein Polizeiwagen schoß vorbei. Eine Katze warf eine Mülltonne um, nachdem ihr jemand auf den Schwanz getreten war, der seinen Schlüsselbund nicht finden konnte. Hinter einem Fenster fügte ein erfolgloser Autor seinem jüngsten Roman ein paar bedeutungslose Sätze hinzu, um die aktuelle Seite zu füllen.
Na und? Wer ohne Schuld ist, soll den ersten Stein werfen.
Als Max um die Ecke Richtung Bahnhof bog, hörte er noch leise die Worte „Du hast sie in die rechte Tasche Deines Jacketts gesteckt, Schatz.“ hinter sich im lauwarmen Südwestwind verhallen.
Gelangweilt verdrehte er die Augen.
Fast im selben Moment rutschte er auf einer Bananenschale aus und fiel der Länge nach aufs Kreuz.
Gut, das ist jetzt wirklich lächerlich, billigster Slapstick, echt schon ein Grund, sein Geld zurückzuverlangen.
Doch es war nun einmal so.
Es widerstrebt mir, irgendetwas zu beschönigen, nur um die Auflage zu erhöhen oder mich dem Pulitzer-Komitee anzubiedern.
Fürderhin dürfte es dem geneigten Leser inzwischen unzweifelhaft ins Auge gesprungen sein, daß, wäre dies wirklich ein Tag wie jeder andere, keiner weiteren Erwähnung würdig, er der Erwähnung auch nicht inhärent geworden wäre.
Stimmen Sie mir zu, mein lieber Watson?
Dies hier war kein gewöhnlicher Tag.
Es war der erste Tag in der Geschichte der Menschheit, der nur 23 Stunden hatte.
Und Bananen sind gar nicht so verkehrt.
Doch zurück zu Max.
Die regenbogenschillernde Pfütze, in der er bei weitem nicht so viel an Gewicht verlor, wie es der von ihm verdrängten Wassermasse entsprochen hätte, hatte für ihn so ganz und gar nichts schillerndes an sich.
Fast wie festgemauert auf der Erde, und Worte gebrauchend, die nun wirklich nicht erwähnenswert sind, kam Max dann doch wieder auf die Beine.
Er versuchte ein Weilchen, seine Bekleidung durch Verreiben des Schmutzes von demselben zu befreien, bevor er die Sinnlosigkeit seines Treibens erkannte.
12,327 Sekunden später stellte er die entsprechenden Bemühungen ein.
Wütend kickte er nach der heimtückischen Krummfruchthülle und bekam erneut Gelegenheit, Archimedes' Gesetz zu falsifizieren.
Nun traf es sich aber so, daß Max weder sonderliches Interesse für Physik, noch für griechische Geschichte an den Tag legte (es sei denn es ging darum, einen guten Demestica zu entkorken).
Seine ganze Aufmerksamkeit galt in diesem Moment eher dem kleinen, runden Objekt, welches über seinem Antlitz schwebte, scheinbar die Allgemeine Relativitätstheorie ignorierend, und - definitiv die Harmonielehre ignorierend - arhythmisch blinkte und piepte.
Kalli, der trotz seiner geographischen Nähe keinerlei Kenntnis von diesen Geschehnissen nahm, schob gerade träge seine Bettdecke beiseite, auf welcher in großer, serifenfreier Schrift verkündet wurde, welche Probleme sich bei der Scheidung eines mutmaßlich berühmten Ehepaares ergeben hatten und daß irgendeine Krankheit epedemial um sich griff. Außerdem war ein Bild von einer barbusigen Brünetten darauf [B2] (einer Bildunterschrift zufolge lautete ihr Name Sabrina und sie wartete auf den Klempner).
Auch diesen sicherlich wichtigen Dingen gelang es virtuos, Kallis Wahrnehmung in hohem Orbit [B3] zu umgehen, als er damit begann, seine Morgentoilette zu erledigen.
Vögelein zwitscherten fröhlich, Autos lärmten stinkend und Passanten schwiegen eilig und desinteressiert.
Sich matt in den Plexiglasscheiben spiegelnd, welche die Fahrpläne vor unbefugtem Zugriff schützten (bzw. dies sporadisch erfolgreich versuchten), kämmte sich Kalli mit den Fingern seiner linken Hand Laub aus den Haaren.
Die rechte betätigte einen imaginären Wasserhahn, öffnete dann das unsichtbare Rasierschränkchen und entnahm ihm pantomimisch etwas, das nicht wie ein Rasiermesser aussah.
Dessen ungeachtet vollführte Kalli nacheinander alle Bewegungen, die üblicherweise notwendig sind, um sich seiner Wangenbehaarung zu entledigen.
Als hinter ihm quietschend der 253'er Linienbus zu stehen kam und stöhnend seine Türen öffnete, drehte er nur ansatzweise sein bärtiges Haupt und maulte: „Besetzt!“
„Morgen Kalli, laß Dich nicht stören“ sagte eine junge Frau, die eben aus dem Bus ausgestiegen war und nicht stören wollte.
„Ich möchte mir nur kurz deinen Lippenstift ausleihen“.
Sie kicherte unhörbar.
Kalli wischte sich mit einem (realen) Handtuch übers Gesicht, während er sich umdrehte [B4].
„Tut mir leid“, sagte er, „der ist gerade ausgegangen. Aber er wollte in einer halben Stunde zurück sein.“
Kein Augenzwinkern oder Stirnrunzeln.
Nein, natürlich nicht, dafür war der Gag zu alt. „Morgen Lisa.“
„Kann man nichts machen. Ist Max schon durch?“ fragte Lisa wie jeden Morgen.
„Vor fünf Minuten, wie jeden Morgen“ sagte Kalli wie jeden Morgen. „Sah nicht gut aus, der Junge. Der braucht mehr frische Luft!“
„Das habe ich ihm auch schon beizubringen versucht. Woraufhin er bei der Tankstelle einen Kompressor geklaut hat.“ Lisa ließ die Schultern hängen. „Der Bursche braucht eine Aufgabe. Eine Herausforderung.“
„Er könnte mein Badezimmer renovieren“. Kalli deutete auf den feuchten Gehweg. „Irgendwo muß etwas undicht sein.“
„Vergiß es, Max hat kein Talent zum dichten. Aber falls du mal umziehst, hilft er dir bestimmt gerne für wenig Geld beim Schleppen der Möbel.“
„Wenn Du es sagst ...
Kann ich dir etwas anbieten? Scotch? Martini? Burdon?“
„Leider keine Zeit. Aber vielleicht heute abend, wenn ich nach Hause fahre?“
„Oh. Heute abend ist schlecht. Bin zu einem UNO-Bankett eingeladen. Mußte wegen mir schon zweimal verschoben werden. Kann man nichts machen.“
„Na dann, bis morgen!“ sagte Lisa.
„In vierundzwanzig Stunden“ murmelte Kalli, während er sich wieder seiner Morgentoilette zuwandte.
Er hatte nicht die blasseste Ahnung.
An einem anderen Ort, zur selben Zeit (was eigentlich gar nicht möglich ist), schauen zwei Augen prüfend auf eine Rolex (eine echte!).
Der Besitzer sowohl der Augen als auch der Rolex (kein Imitat!) hat Ahnung, und nicht nur blasse.
„Leise!“ sagt er.
„Es heißt ‚leise Ahnung‘. Schimmer sind blaß.“
Dann blickt er in die Augen des Trägers einer anderen Rolex (hundertprozentig Original!).
„Und was ist mit dem anderen Problem?“
„Fast gelöst. Der Bananen-Gimmick erweist sich als erfolgreich.“
„Was? Der alte Bananengag? Und das funktioniert?“
„Manchmal sogar zweimal.“
Der Träger der zweiten Rolex (authentisch) wirkt sichtlich zufrieden.
„Es existieren kaum noch intakte Grundfrequenzen, und die Harmonischen liegen unter 17 Prozent.“
Fünf Finger rieseln nacheinander auf eine sehr teure Schreibtischplatte hernieder. In der üblichen aufsteigenden Reihenfolge.
Sichtlich unzufrieden.
„17 Prozent? Das scheint mir nicht ganz zu reichen, oder?“
„Relativ, mein Bester, relativ! Durch die zweihundertprozentige Fallquote erreichen wir einen Entropieinflationsbeschleunigungszuwachs jenseits aller erwarteten Werte.“
„Der von mir erwartete WERT lautet EINS!
JENSEITS von Eins bedeutet grundsätzlich WENIGER als Eins! Und weniger als Eins bedeutet jenseits aller von MIR erwarteten Werte. Und das wiederum bedeutet, daß irgend jemand seinen Allerwertesten mehr oder weniger im Jenseits wiederzufinden erwarten kann. Bringe ich in diesem Wortspiel alle relevanten Begriffe klar und deutlich unter?“
„Die Eins kommt nicht darin vor. Es sei denn, der Jemand wird damit assoziiert.“
„Dafür kann ich nicht garantieren. Uhrenvergleich?“
„Rolex. Und Du?“
Solcherlei wirres Zeug wird geredet und außerdem getrunken, geraucht und gegrinst.
Die Besitzer der echtesten Uhren der Welt bedienen sich dabei eines Grinsens, welches nicht von dieser Welt ist.
„Entschuldigung, wären Sie so freundlich mir zu sagen, wie spät es ist?“
Das zittrige, blasse Stimmchen gehörte zu einem alten Mütterchen, kaum größer als ein siebenjähriges Kind. Es trug einen olivgrünen Filzhut auf seinem immer noch reich, aber grau behaarten Haupt, dessen rechte Seite tatsächlich von allerlei Obst verziert wurde [B5], und der es [B6] fast ein Drittel größer erscheinen ließ.
„Tut mir leid, ich habe keine Uhr. Aber normalerweise ist es um diese Zeit immer halb Neun.“
Lisa setzte ein entschuldigendes Lächeln auf. Irgendwie gelang es ihr damit den Eindruck zu erwecken, sie wüßte, wovon sie spricht.
Das kleine graue Mütterchen zog ein kleines graues Büchlein aus der Tasche ihres großen olivgrünen Filzmantels hervor, blätterte emsig darin herum und erklärte: „Es klappt alles nicht mehr so gut. In meinem Alter, verstehen Sie? Zu viele Jahre! Dreimal schwarzer Kater. Ah, hier: Acht Uhr dreißig. Ist das jetzt gut oder schlecht?“
Lisa verstand die letzte Frage nicht ganz; Lisa hatte Zweifel, ob sie überhaupt an Lisa gerichtet war.
„Ich weiß nicht“, versuchte Lisa dennoch hilfreich zur Seite zu stehen.
„Ach, ich altes Dummerchen. Natürlich nicht. Fehler meinerseits. Vielen Dank jedenfalls. War nett, sie kennengelernt zu haben, wissen Sie?“
Mit diesen Worten setzte die kleine Greisin ihren Weg fort, unverständliche Dinge vor sich hingrummelnd.
Lisa schaute ihr noch eine Weile nach und beobachtete, wie dieses merkwürdige Persönchen beim Gehen wie ein Metronom hin- und herwankte. (Kam es Lisa nur so vor, oder hatte da eine Made aus der Kirsche auf dem Hut der alten Dame herausgeschaut?)
Kapitel 3: Chronos
Lassen wir einmal die vorherrschenden, leider recht abstrakten Ansichten der modernen Physik darüber, was Zeit eigentlich ist, beiseite.
Im alltäglichen Leben kann jedermann schnell feststellen, daß der Charakter der Zeit nicht nur darin besteht, relativ zu sein, sondern auch eigensinnig, verwirrend und regelrecht link.
Fünfzehn Minuten, zum Beispiel, sind nun wirklich keine lange Zeit. Aber zählen Sie einmal die 900 Sekunden einzeln ab!
Können Sie sich an einen Tag erinnern, an den Sie sich nicht mehr erinnern können?
(Halten Sie diese Frage für sinnvoll?) Wenn ja: dieser Tag bestand aus 86.400 solcher Sekunden.
Wenn nein: dann auch.
Einunddreißigkommafünf Millionen pro Jahr.
Verstehen Sie, was ich meine?
Die Zeit mag es nicht, gezählt und untersucht zu werden. Der Grund dafür liegt in der wahren Bedeutung dessen, was die Philosophen* das ‚Wesen der Zeit‘ nennen.
Sie ist nämlich eins!!!
Nein ehrlich. Die Zeit ist eine denkende, rational handelnde Entität, und sie kennt sogar das Wunder der Empfindung.
Sie können ihr Freund sein oder ihr Feind. Das liegt ganz bei Ihnen.
Nun ja, unter Umständen auch an den Umständen.
Freilich, als sie noch jung war, hat sie sich einiges gefallen lassen (müssen).
Jedermann konnte sie strecken, verdrehen, verknoten und aufschlitzen, gerade wie es ihm beliebte.
Sie hielt das alles für Spielerei, ja, fand es sogar amüsant.
Doch tief geschlagene Wunden brachten ihr Verstand bei. Sie ließen sie reifen, edler und würziger werden, wie einen kostbaren Wein.
Die Ära der Zeitenwandler, Chronotaumiker, Traumakomiker und Ewigjugendlichen war ein für alle Male vorbei.
Sprach Zarathustra* und starb. Also!
„Junger Mann, hätten Sie die Güte, mich kurz Ihr Badezimmer benutzen zu lassen?“
„Nein, bitte, tun Sie sich keinen Zwang an. Ich bin sowieso schon zu spät zur Aufsichtsratssitzung dran. Sie haben da übrigens eine Made in der Kirsche.“
„Na sowas. Und dabei habe ich Simon heute morgen noch darauf hingewiesen, daß ihr davon immer schlecht wird.“
„Falls es dazu kommt: der Eimer steht im Besenschrank. Aber er wird höchstwahrscheinlich etwas zu groß sein. Sind sie so nett und schließen die Tür, wenn Sie gehen?“
„Ich werde daran denken!“ zitterte das Stimmchen.
Aber Kalli war schon verschwunden.
Die kleine alte Dame mit dem Filzhut setzte sich.
Sie wartete auf den Bus.
„Ich mag den Burschen“ sagte Simon, die Made.
„Ich hoffe, es wird alles gutgehen“ erwiderte die kleine alte Dame. Als der Bus dann kam und sie einstieg, dachte sie an Türen, die sich schlossen.
Kalli betrat die Apotheke. Er haßte diesen Geruch. Er war so ... medizinisch. Eine Mischung aus dem Geruch von Omas Kleiderschrank, Opas Dose mit Lakritzbonbons, Eukalyptustabletten und Baldrianpastillen, aus unscharfen grünen Kitteln und einem undefinierbaren, schrillen Geruch, wie das Geräusch eines Zahnarztbohrers.
Die Apathie schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen:
Die Apotheken dieser Welt hatten sich gegen ihn verschworen.
‚Kommt das Wort Apotheke etwa von Apathie?‘ überlegte Kalli. ‚Oder umgekehrt?‘
Es gab neben ihm nur einen einzigen anderen Kunden.
Einen alten Mann.
Der gerade bedient wurde.
Scheinbar schon seit geraumer Zeit.
Und ein Ende war nicht abzusehen.
Kennen Sie das?
Das Duell zwischen dem Alten und der Apothekerin hatte gerade ein Stadium erreicht, in dem die Ärmste alles dafür gegeben hätte, die weiße Fahne schwenken zu können, wenn die Spielregeln solcherlei nur irgendwie vorgesehen hätten. Hatten sie aber nicht.
Es blieb ihr nur ein Ausweg:
„Ich kann natürlich gerne versuchen, ob ich auf die Schnelle den Hersteller telefonisch erreichen kann, ich bin gleich wieder da.“
Und weg war sie.
Damit hatte sie sich eine Pause von fünf bis zehn Minuten verschafft, wie Kalli verzweifelt zur Kenntnis nehmen mußte.
Jetzt fehlte es nur noch, daß der Alte ihn ansprach.
‚Oh nein, er dreht sich um ...‘
„Dauert das noch lange?“ – Glucksen.
„Bitte?“ – genervte, geistig abwesende Stimme.
(Nein, wir sind nicht mehr in der Apotheke!)
„Lange. Dauern. Du verstehst?“ – albernes Kichern.
„Ich habe über diesen Witz noch nie lachen können. Könntest Du Dich vielleicht etwas nützlich machen?“
Gelbe Lichtlein blinkten, grüne Linien schlängelten sich über Monitore, blauer Dunst lag in der Luft ...
„Können? Vielleicht? Ah, den hab ich. Du hast ja doch Humor ...“
... und rote Symbole drohten.
„Das war kein Witz! Wir haben ein ernsthaftes Problem!“
Ein erstauntes Gesicht schaute in ein besorgtes.
„Wie ist das denn möglich?“
„Es ist nicht möglich. Eben das ist ja das Problem!“
„Und wenn wir sie zurückrufen?“
„Das ist möglich. Aber nicht unproblematisch.“
„Faszinierend.“
„Wieso?“
„Es scheint da eine Art Unschärferelation zu existieren. Die Dinge können nicht unproblematisch und möglich zugleich sein. Wie groß wohl der Quotient sein mag?“
„39,3 Grad. Ich sag‘s nur, wie’s ist. Und was machen diese hochgelehrten Schwachköpfe? Wollen mir den Alkohol verbieten. Mir! Den Alkohol! Mir! Und jetzt auch noch so‘was.“
Kalli schwieg wie betäubt.
(Ja, wir sind wieder in der Apotheke.)
„Haben Sie eigentlich schon mal fünf Tage auf dem Scheißhaus verbracht, haben Sie, hä? Und dann diese Beipackzettel. Nehmen gar kein Ende, diese Dinger. Nichts darfst Du machen, wenn Du irgendwas nimmst. Auch nichts nehmen. Man traut sich ja kaum noch, zu atmen“. Der Alte spie die Wort regelrecht aus.
Kalli versuchte, nicht zu atmen.
„Wenn man sie überhaupt lesen kann. Ein Fluch. Und wenn ich dann den Apotheker frage, was das heißt, und das da, dann schauen mich alle an wie einen verdammten alten senilen Greis, verstehen Sie?“
Kalli verstand.
„Soll ich Ihnen sagen, warum diese Welt vor die Hunde geht? Niemand hat mehr Zeit!
Nicht für das Notwendigste! Sie haben die Zeit abgeschafft. Das ist eine Verschwörung, und niemand ist vor ihnen sicher.“
Kalli hatte das Gefühl, die Zeit würde überhaupt nicht mehr vergehen.
Doch der Schein trug. Die Apothekerin kam zurück.
Während in einer anderen Dimension die Zeit stillstand. Wenn man das so nennen kann. Was man nicht kann.
Obwohl ich es eben getan habe, was wiederum dafür spricht, daß man es doch kann.
Wenn man so sagen darf.
Was man darf, aber nicht kann, wenn die Zeit stillsteht.
So ist das. Es passiert einfach nichts.
Langweilig, oder?
Dennoch, auch diese Nicht-Dimension mußte mal erwähnt werden, da sie existiert und eine Rolle spielt.
Von außen betrachtet.
„Das mußt Du Dir ansehen!“
Die Stimme ist nicht wenig aufgeregt und vibriert wie die Unruhe in der Uhr ihres Besitzers.
Eine Marken-Unruhe.
„Jemand tut das selbe wie wir!“
„Meinst Du damit, was ich denke, das Du meinst?“ - die bekannte Stimme des Trägers einer anderen bekannten Uhr.
„Jemand manipuliert! Ich kann Frequenzen einspielen, doch sie sind kurz darauf wieder aufgelöst, wie von Geisterhand. Alle, absolut alle Interferenzen sind destruktiv. Das kann kein Zufall sein.“
Ein seltsamer Ausdruck zeigt sich auf einem Gesicht und verleiht ihm ein nie gekanntes Aussehen. Ist es Angst? Verblüffung? Nichts von alledem – es ist eher etwas wie Neugier. Sehr neu.
Und sehr gierig.
„Aber es gibt niemanden außer uns, der das tun könnte! Allein der Gedanke ist verrückt.“
„Außerhalb des Systems gibt es niemanden. Doch innerhalb ...“
Die Sekundenzeiger zweier Präzisionsmeßgeräte bewegen sich um mehrere dutzend Grade weiter, während man ein Spinnenbein fallen hören könnte.
Noch bevor es aufschlägt.
„Nein! Der Gedanke ist noch abstruser. Von innen manipulieren ... das grenzt an ... Paranoia!“
„Ich bin nicht paranoid. Doch wir sollten das Phänomen sorgfältig untersuchen.“
„Tun wir das. Wäre ja noch schöner, wenn es so etwas wie eine Zukunft gäbe, und die selbst sie auch noch manipulieren könnten.“
Man kennt das ja von Dornröschen:
Da kamen alle möglichen Tanten vorbei und verfluchten das arme, unschuldige Mädchen mit Schönheit, Weisheit, Jungfräulichkeit und 100 Jahren Schlaf.
Weit weniger bekannt ist, daß ähnliches jedem passiert, nur nicht immer mit dem selben Wortlaut.*
Ebenso sind es nicht immer märchenhafte Feen, sondern je nach Kulturkreis auch schon mal die Hebamme, der Gemeindepfarrer, die Frau vom Gemüsestand oder der hemdsärmelige, nach Bier stinkende alte Nachbar, die in Dein Leben eintauchen und Dir Dein Schicksal prophezeien.
Oder Mutters Kaffeekränzchen.
Wie im Fall von Max.
„Aus dem Jungen wird mal was!“ und „Nein, so ein liebes Kind aber auch!“ gehörte nicht zu dem, was er in seiner frühesten Kindheit zu hören bekam.
Statt dessen kam man auf die eigene Jugend zu sprechen, in der es so etwas nicht gab.
Oder auf Besserungsanstalten (die es seinerzeit mehr denn je gab*).
Aber meistens, und das war noch viel schlimmer, sprach man überhaupt nicht mit oder über ihn. Es gab ja auch wichtigeres. Die Frühjahrsmode und die neue Wonderbra-Diät; oder Sportergebnisse, Motorenöl und Pseudopolitik, je nach Elternteil.
Es gibt nicht viele Menschen, die mitten in Klischees aufwachsen, doch es gab und gibt sie immer. Dadurch werden sie selbst zu Klischees.
Heute verkauft Max Scherzartikel.
Beziehungsweise hatte er das vor.
Max war wie hypnotisiert.
Ein dumpfer Gedanke erfüllte seinen Kopf:
„Wo bist Du.“
Ein Gedanke, der ganz definitiv nicht sein eigener war. Er hatte eine völlig andere Stimme.
Nein, eigentlich konnte man es nicht Stimme nennen, es war jenseits gewohnter Sinneseindrücke.
Am ehesten ließ es sich mit einem Geschmack vergleichen.
Der Gedanke schmeckte nach Aluminium.
Und er aluminierte, ganz deutlich: „Wo bist Du.“
Ohne Fragezeichen.
„Gute Frage“ dachte Max, diesmal selbst.
Der Glaube an seine kognitiven Fähigkeiten wurde nicht unwesentlich durch die munter blinkende Kugel über seinen beiden eigenen Augen beeinträchtigt.
Allem Anschein nach lag er in einer Pfütze; ob sich diese jedoch auf dem Planeten Erde befand - oder überhaupt im bekannten Universum - dafür würde er seine Hand nicht mehr ins Feuer legen.
Ebenso war es möglich, es handelte sich um einen psychedelischen Traum jener Art, wie man sie zwischen dem vierten und fünften Aufwachen am Morgen zu erleben pflegt.
„Brblblblblbr...“ sagte er, eher unfreiwillig.
Wiederum erfüllte etwas aluminiumartiges Maxens Sinne:
„Philosophischer Parser nicht geladen. Keine Zeit dafür. Wohin bewegst du dich und wenn ja, mit welcher Geschwindigkeit?“
Max, der den Verdacht hegte, sich mit Lichtgeschwindigkeit in den Irrsinn zu bewegen, bekam prompt zur Alu-Antwort, die Frage solle geographisch aufgefaßt werden.
„Was ist das hier? Versteckte Kamera?“ brach es aus Max heraus. „Ich liege in einer gottverdammten Pfütze und bewege mich keinen verfluchten Zoll!“
Schlagartig beruhigten sich die Blinklichter des Ungewöhnlichen Fliegenden Objekts, und nach ein paar Augenblicken superb choreographierter Spannung ertönte eine piepsige Stimme aus seinem Inneren:
„Oh, du beherrschst die artikulative Kommunikation? Warum sagst Du das nicht gleich?“
Dann piepste die Kugel "keinerlei Bewegung" und vermerkte drei (Komma eins vier eins fünf neun) Wahrscheinlichkeitspunkte für Zenons Theorie.
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Wäre „umdrut“ oder „umdrah“ nicht viel klangvoller?
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