Kamelobooks:Der Bäricht
In vorläufiger Ermangelung von fundierten Rechercheergebnissen zunächst ein persönlicher Bericht:
Es muss nach christlichem Schöpfungsverständnis am späten Abend des sechsten Tages gewesen sein, als der Bär entstand. Aus den ewigen Himalajas jedenfalls wird berichtet, dass der Schöpfer - den man zwar dort Brahma nennt, aber wir wollen nicht kleinlich sein, was Namen angeht - dass jedenfalls der Erschaffer des Universums bei seiner intelligenten Arbeit am Design des Makro- und Mikrokosmos doch einmal gähnen musste. Und alsbald kam da sofort - tapp, tapp, tapp - ein Bär aus seinem erschöpften Munde herausgelaufen. Nun ja, so ist er, der Herr, könnte man meinen, immer wird bei ihm alles gleich persönlich, oder: Aha! Der Bär - das Gähnen in Person! Was für eine sinnträchtige Geschichte! Doch wie dem auch gewesen sein mag, an jenem sechsten Abend - es begann unser Bär, dieses mystische Symbol von Gottes Müdigkeit, von nun an eine lange und höchst erstaunliche Geschichte zu durchwandern.
Geschichte, wenn sie Zukunft zu werden wünscht, muss, das verstehen sogar Quantentheoretiker, zwangsläufig zunächst einmal die Gegenwart durchmessen. Und in dieser Gegenwart sitzt heute meine sehr kleine Kusine Diana, die es gerade von so einem goldgelockten Idioten aus dem Fernsehen gelernt hat, die gesamte Historie des Bären sehr einfach zusammenzufassen, in einem einzigen, wagemutigen Satz: „An Anfang und an Ende der Nahrungskette steht der Bummibär."
Mit dieser philosophisch wie theologisch völlig zutreffenden Erkenntnis aber ist es der winzigen Diana - wenn man genau hinschaut, reicht sie einem Gummibären gerade einmal bis zur Schulter - nicht genug. Nein, sie tippelt noch einen sehr entscheidenden Schritt weiter, indem sie kühn vorpreschend den Rest des so sinnträchtigen Werbespruches hinzufügt: „Deshalb ist sein Leben (das des Gummibären, Anm. d. Verf.) auch nur sehr kurz!" Um ihre gnadenlose Theorie zu erhärten, steckt sich Diana daraufhin stets ein Exemplar der erwähnten Gummibären in ihren hübschen, kleinen Mund und kaut dann mit großem Wohlgefallen lange auf ihm herum. Abschließend kann man deutlich sehen, wie ihr Kehlkopf eine schicksalsbesiegelnde Schluckbewegung vollführt.
In der gleichen zeitengezausten Weltengegend, von woher die Geschichte über den Bären, dessen Ursprung das rechtschaffene Gähnen des Schöpfers gewesen sein soll, einst herauskoltoportiert wurde, leben noch heute große Mengen von so genannten Buddhisten. Buddhisten müssen wir uns als Lebewesen vorstellen, denen es längst nicht genug damit war, alles wieder zur Sau zu machen, was der Schöpfer so sinnreich mit Bedeutung oder mindestens doch mit deren Schwangerschaft versah, damit sie am Ende ihrer unwiderstehlichen Analysen selbst übrig blieben - also präzise das, was jeder Schöpfer praktizieren muss, um nicht plötzlich eine erhebliche Anzahl anderer Götter neben sich zu sehen -, sondern die nach dem Übrigsein gleich noch ein bisschen weiteranalysieren. Und zwar im Ernstfall so lange, bis sie selbst endlich auch weg sind. Womit sie übrigens Recht haben, denn tatsächlich werden sämtliche wissenschaftlichen Ansichten über das Dasein in der Analyse völlig unhaltbar, das ist eine wissenschaftliche Ansicht, und auch die von Dianas Großmutter, welche, wenn ihr Gemahl wieder einmal begeistert eine seiner neuen Philosophien vom Ewigen Leben verkündet, zu sagen pflegt: „Ach Horschte, das ist doch auch bloß so eine Lebenslüge!“ Dann wird Horst stets ungenießbar.
Den meisten aller Theorien, sobald sie ihr Haltbarkeitsdatum überschritten haben, ergeht es ja wirklich genau so, wie etwa Lebensmitteln oder Dianas Großvater, oder wie Buddhisten: Sie werden faulig, überaus giftig und verbreiten elende Penetranz. Buddhisten wollen das einfach nicht mehr mitmachen - obwohl sie es doch angefangen haben, diese Widersacher. Sie widersetzen sich ernsthaft, und das machen sie so:
Statt - wie etwa der Gemeine Christ (der Gemeindechrist zählt zur selben Art) - der auch einmal etwas angefangen hat, was er keinesfalls zugeben darf - so verlogen wie möglich um das immerwährende Dasein zu streiten, kämpfen die Buddhisten: So ehrlich wie möglich um das ewige Nichtsein. Nichts ist tatsächlich, lautet ihre Lehre, und ihre Lehre schweigt den Zusatz: „Ja. Und ich auch nicht.“ Erst kürzlich ließ ein hochgestellter buddhistischer Mönch verlauten: „Samsara ist Nirwana!“ Was war dem hinzuzufügen? Nichts natürlich, jedenfalls nicht wirklich. Konsequent praktizierter Buddhismus ist der perfekte Selbstmord. Da jedoch der Weg zu diesem perfekten Selbstmord immer wieder von den schrecklichsten Hindernissen - wie etwa plötzlich sie überwältigender Daseinsgier, oder gar der fürchterlichen Lebenslüge, dieses oder jenes gäbe es vielleicht doch wirklich - enorm erschwert wird, haben sich die Buddhisten etwas ausgedacht, das sie Pratyahara nennen. Das ist das eigentliche Thema unseres im Grunde nichtexistenten Vortrages.
Selbstverständlich gibt es auch das Pratyahara nicht wirklich, denn es gibt ja in Wirklichkeit gar nichts wirklich. Auf dem dramatischen Weg jedoch, hin bis zu dieser Höchsten Wirklichkeit von der völligen Unwirklichkeit sämtlicher scheinbaren Wirklichkeiten - die es neben allem anderen am Ende auch nicht mehr wirklich gibt, und zwar tatsächlich nicht - hilft den Buddhisten das Pratyahara aber recht oft einige bedeutende, unwirkliche Schritte weiter. Pratyahara bedeutet nämlich: „Genau das Gegenteil", oder: „Das Gegenmittel." Verständlicher ausgedrückt: Wenn zum Beispiel jemand von den Behauptungen des Galileo Galilei - oder sagen wir der NASA - dass es sich beim Weltall um ein gewaltiges Loch handeln würde, in dem hier und dort ein paar Kugeln oder Nebel rotierten, so beeindruckt zu sein anfängt, dass er beinahe schon wirklich zu glauben droht, dieses Weltall gäbe es in der so genannten Realität, dann wendet er einfach mal kurz Pratyahara an: Wie denkt man sich das genaue Gegenteil von einem Loch mit Kugeln darin? Sehr richtig, als einen gewaltigen Schweizer Käse. Das Gegenteil der modernen NASA? Genau, Maden in einem alten Romadour. Logisch? Schau einer an, Sie sind gar nicht so schlecht in Buddhismus.
Insofern also dem Munde des gähnenden Herrn Schöpfungsvaters einst ein echter Bär entlief und Papa daraufhin entschlummerte, muss, wenn man sich das Gegenteil (Pratyahara) eines großen, echten Bären - einen kleinen, falschen Bären - nicht aus dem Mund heraustappen sondern in den Mund hineinlaufen lässt, natürlich auch das Gegenteil (Na? Wie sagt man dazu?) von überwältigender Müdigkeit die Folge sein. Spätestens an dieser Stelle nun dürfte es für jeden, der an Schöpfungsgeschichten gläubiges Interesse zeigt, wohl als unbezweifelbar erwiesen gelten, dass Gummibären die stärksten Muntermacher des Universums sind - besonders dann, wenn sie am Gegenteil des Endes eines sechsten Schöpfungstages, also am Gegenteil eines Samstagabends, eingenommen werden, und zwar nicht von einem riesengroßen, unsichtbaren Mann, sondern von einem sehr winzigen und sehr präsenten Fräulein. Was sehen wir? Natürlich meine Kusine Diana, die partout nicht ins Bett will. Bei dieser Art des Schlussfolgerns von Ursachen auf Wirkungen handelt es sich übrigens um die so genannte Logik, und das Ganze nennt man Karma.
Karma ist ganz einfach zu erklären: Wir müssen es uns etwa so vorstellen, wie einen Kontostand, den wir nicht kennen, auf einer Sparkasse, die es nicht gibt. Und zwar bezogen auf einen Kontoinhaber, der sich nur hartnäckig einbildet, dass er existieren würde. Dieser Punkt dürfte besonders die Juden interessieren, denen man ja nachsagt, sie seien Schuld an der Zentralbank und auch sonst an allem. Ist gar nicht wirklich so, und davon dann das Gegenteil. Keine Sorge, das hier soeben in spekulationshungrigen Linksfaschistengehirnen alarmrot aufdämmernde Missverständnis klärt sich gleich wieder.
Zugegeben zunächst jedoch: In der Sache mit dem Karma liegt ein Paradox - das es zwar ebenfalls nicht wirklich gibt, das jedoch erwähnt werden sollte: Die meisten beziehen nämlich das Meiste, was sie erleben, sofort trotzig auf sich selbst, obwohl, wie wir inzwischen wissen, eigentlich weder sie noch das Erlebnis je existiert haben, und es entsteht eine scheinbare Diskrepanz zwischen Wissen und Glauben. Weil zwar gewusst wird, dass es im Grunde nichts wirklich gibt, aber dennoch immer wieder Glauben insistiert, da wäre doch etwas, rechnen sich diese Meisten die so entstehende Verwirrung selbst zu und vermuten sehr oft, dass sie vielleicht irgendwann einmal irgendetwas falsch gemacht haben könnten. So bedeutet für sie das Einzahlen von guten Taten auf das Karmakonto in gewisser Weise das Abbezahlen von Schulden - obwohl sie gar nicht wissen, ob sie überhaupt welche haben. Schulden begleichen oder Sparen ist wesentlich beruhigender, als von dem Karmaguthaben etwas abzuheben und dabei nicht genau zu wissen, ob man seinen Bankkredit vielleicht längst weit überzogen hat. Also: Karma, das ist die Rechnung ohne den Wirt, und Gott, das ist der Wirt ohne die Rechnung. Wenn Sie diese erbärmliche Verhältnishaftigkeit für ein Dilemma halten und einen Ausweg suchen, hier ist er: Besuchen Sie keine Wirtshäuser. Ende des Paradoxes.
Machen wir uns abschließend klar: Hätte der Schöpfer damals nicht so weit das, den Mund aufgerissen, wäre keinerlei Bär erst gar nicht herausgekommen. Nun aber müssen wir unter dem hohen Risiko leiden, dass der Mensch möglicherweise vom Gummibären abstammt, und wir sollten uns nichts vormachen. Es kennt nämlich der Buddhismus bei weitem nicht nur das Gegenteil von allem, also das Pratyahara, o nein, das ist gerade erst der Anfang des Buddhismus. Nur ein einziges kleines Qualifikationstreppchen höher hin zum Gipfel der buddhistischen Weisheit lehrt er uns gleich danach auch noch das „Gegenteil vom Gegenteil“, und das nennt er dann Dhyana. Wie ich meine kleine Kusine, die ich allerdings inzwischen Artemis rufe, um Verwechslungen auszuschließen. Dazu aber mehr in einem späteren Le- in einer späteren Lektion.
Wenn Ihnen nun bei der Moral dieser ersten Lektion - sie folgt gleich - ein wenig übel werden sollte: Wenden Sie einfach Dhyana an, und zwar ganz unbefangen, etwa so, wie Diana Dhyana anwendet, ohne davon in ihrem kleinen Gehirn überhaupt zu wissen, was Dhyana bedeutet: Das Gegenteil vom Gegenteil. Und wenn Sie dadurch zu dem dürftigen Schluss gekommen sein wollten, dass man Ihnen hier nichts als nichtssagenden Mist erzählt hat: Verspeisen Sie einfach mit etwas Bewusstsein beim Kauen einen Gummibären, und Sie werden erstaunt bemerken: Niemand anderes als Sie selbst können die Urerste Inspiration für das gewesen sein, was Sie hier gerade zu lesen bekamen.
Soeben bemerkte ein Bekannter über meine Schulter hinweg zu mir, na, das sei ja wieder einmal so ein Text, für den ich nur fünf Flugstunden von hier sofort, ohne Verhandlung, gesteinigt werden würde, und ob er mir mal lieber so Filmchen aus dem Internet zeigen solle, so von Hinrichtungen. Der Bekannte gähnte mir in den Nacken und meinte, er schliefe gleich ein Und Sie? Sind Sie noch wach? Dann nehmen Sie dies:
„Om Mani Padme Hum“, so heißen die vier Worte, welche auf allen Gebetsmühlen der Buddhisten stehen. „Om“ meint Anfang, „Mani“ einen Kristall, „Padme“ ist nicht der Vorname der Prinzessin Amidala aus „Krieg der Sterne“, sondern eine Lotosblüte, und „Hum“: Das Ende. Zwar gilt die deutsche Sprache als überaus ungeeignet zur Erörterung spiritueller Themen, aber ich werde es mal versuchen:
Was am Anfang Edelstein
Kann Lotosblume endlich sein.
Ich habe diese Moral meiner kleinen Kusine schon oft als Schlaflied ins Öhrchen gesungen. Verstanden hat sie nie etwas, eingeschlafen ist sie immer. Friedlich, lächelnd, mit rosigen Wangen. Den Vers kann sich jeder merken. Kann man statt Schäfchenzählen verwenden. Wünsche ich Ihnen. Herzlich. Gute Nacht. Hum.
Und wenn Sie immer noch nicht eingeschlafen sein sollten - nehmen Sie dies: